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(Originaltitel: NEBO U BUNARU)
(2011)
aus dem Kroatischen übersetzt von Tihomir Glowatzky
DER HIMMEL IM BRUNNEN
Über dem Brunnen
ein Blatt, das
in den Himmel fällt.
***
Geboren am 20. September.
Dichter,
zur Zeit der Ernte.
***
Im Fenster des
baufälligen Palasts
das Gesicht des vollen Mondes.
***
Windhauch
so sanft,
dass er keine Richtung anzeigt.
***
Er träumt, obwohl er schlaflos ist.
Blind ist er, aber er sieht.
Vom Himmel geboren
er herrscht, indem er
irdischen Blumen Namen verleiht.
***
Du, ziellose Geschichte, Inbegriff von Illusionen!
Du unruhiger und verwünschter Fluss,
allseits sichtbare und vorhersehbare,
leidenschaftliche Gier,
mit verfallenen Zentren, von Mauern bewehrt;
ohne Wachsamkeit und Gefühl fürs Unsichtbare,
allzu emsiger und getrübter, konfuser Haufen ,
du stinkendes Aas, ahnst du denn nicht dein Ende?
***
Ein Farnblatt,
im Bernstein gefangen,
glänzt auf deiner Brust.
Glänzt, so wie die Zeit vergeht,
dauerhaft lebend in meinem Sinn.100 101
***
Wir ernähren uns von Düften,
benetzen uns mit Tau,
betten uns in Schaum.
Umsonst sind wir wach,
wenn der Schlaf die Welt in Ketten gelegt hat.
Der Atem ist unser –
der Geist über den Wassern,
Dampfwolken
über dem Amazonas.
Die Seele müssen wir
von der Täuschung unterscheiden,
das Unsichtbare vom Sichtbaren.
Statt mit Nahrung füllen
den Körper wir mit Atem;
es freut die Seele sich auf den Tod.
Ich, ein schwarzer Punkt –
neben einem hellen Körper.
Der sich erhebenden Sonne
antworte ich mit der Handfläche;
abmessend erkenne ich;Das Wort, Gottes Schöpfung.
Durchs Benennen erschaffen wir,
richten den kristallenen Balken auf,
damit an ihm die Lichtwellen sich brechen.
Anstatt eures Sinnes
gabt ihr den Worten eine niedere Bedeutung,
ihr Ungläubigen!
Denn das Volk lebt von des Königs Wort
wie der Baum vom Sonnentau.
Herakles wird an der Kreuzung
den engeren Weg wählen.
Den nach innen und zum Kampf
hin mit sich selbst,
zum Sieg über sich selbst.
Du bist die Straße, auf der du reist.
Den Dämon gilt es kennenzulernen,
um ihn zu besiegen.
Benenne ihn und er wird dir dienen.
Warum kommst du nicht zu uns,
Geliebter, deine Augen zu suchen?
DES IMKERS UNGLÜCK
Meine Bienen sind
geflohen heute Morgen,
in großem Schwarm
in Richtung der
westlichen Klippen.
Meine Bienen sind
geflohen heute Morgen,
durch etwas aufgebracht,
ich werde es nie erfahren.
Sie flogen weit weg
hinter drei Wäldern, zu den Hügeln,
den verschlafenen Schluchten.
Sie flohen morgens,
bis zur letzten Drohne.
Sie ließen die Bienenkörbe
mit schwerem Honig zurück, ach!
In dunkle Schluchten,
flogen hoch sie weg.
Als ob sie sich ängstigten
vor einem neuen Tod.
Was hat sie vertrieben,
welch Ungemach sie getroffen?
Aus dem blühenden Tal
flohen unsere Bienen!
Traurig ist mein Tag,
wie der schwarze Tod,
der aus den Wolken fällt,
anstatt des kalten Regens
auf der Sonnenleiter.
Sie flatterten plötzlich weg,
als ob sie es eilig hätten
einem hässlichen Tod zu entgehen.
Meine Honigbienen,
meine jungen Herden,
in goldenen Schwärmen
verließen sie die Weide,
verließen die Blumen,
Bäche und Quellen.
Ließen traurig mich zurück
todesmüde,
denn Bienen zu verlieren
ist dasselbe wie sterben.
Brasilia, 02.07.2011
***
Ein Mulatte, mit warmer Stimme
wie Schokolade,
vor Anila, der Markthalle, – Gefühl pur.
Lieder der Gauchos aus dem Süden.
***
Verfaulte Makrele
im Eisblock.
Ich warte auf die
Hitzewelle
und den Beginn des Tauens,
damit das Fischgewebe sich
vollständig auflöst.
Eiter und Festmahl.
***
Mit einem Stalaktiten aus Eis
durchbohrst du mir die Brust.
Der vollkommene Mord.
VLIES
Ich sitze auf dem Fell
eines urtümlichen wilden Tieres.
Über mir tanzen die Sterne.
Du weichst die Bohnen in kaltem Wasser ein,
das du mit deinen Küssen wärmst.
Du bist wie eine unerreichbare Fusion.
Doch eines Tages, wer weiß,
wird die saubere Energie
Wirklichkeit werden.
Dann werde ich ein Buchstabe sein,
als einziger, Beauftragter des irdischen Alphabets.
Tänzer unter schweren Sternen.
Brasilia, 13.11.2011.
***
Zwischen Frische und Verwesung
schwebt der uralte Ruf des Tukans.
Dessen lebendige Farben und der Schnabel,
wie ein umgedrehter Bug,
durchbrechen die erwartete Harmonie.
Mein Lockruf, Vincent*, an dich,
reise an, aber mit leeren Händen.
* gemeint ist der Maler Vincent van Gogh
RIO DE JANIERO
Gedeihen oder Verwesung,
Gesang oder Schrei.
Feuchtigkeit oder Schwüle,
Melancholie oder Faulheit.
Mineralische Gärung
aufgehalten durch das Aufbäumen der Fäulnis.
Grünes fleischiges Bartuch für geschlagene Schlachten
Teer von geschundenen Landschaften.
Deine Städte, Land unter dem Kreuz des Südens,
sind wie Pflanzen, die Wurzeln schlagen und überdauern,
allem zum Trotz, auf steilen Hängen,
mit Begießen – aber auch ohne.
DER KINDHEIT GOTTHEITEN
Wohin eilt ihr, weiße Segel,
in welche Richtung ihr hastet?
Nach welchem beliebten Lied
und nach welcher Geliebter Schleier?
Ist denn das Glück hinter
oder flattert es vor euch –
Ihr seid in der Minderheit,
ihr geliebten Götter,
Apollo und Pallas Athene!
Welches Glückt lockt euch
und nährt mit Hoffnung eure Fahrt,
nach welchem Glockenschlag erheben sich
unsere Boote, die schwarze Welle
und das Rauschen?
Niemals verlassen wird euch
die grüne Insel und der Hain, der Weinberg
und der Olivengarten, die Zikaden vergolden den Laut;
das Rumoren des Bachs und des Kruges silbernen Klang.
OVUM NUDUS*
Seit dreißig Jahren schon sprach ich
nicht dieses Wort aus uralten Zeiten aus,
das mich heute überfiel unter fleischigen Blättern.
Es holte mich ein wie eine Heuschrecke, eine Hornisse,
wie eine zornige Wespe…
Wo war es verborgen, all diese
lange und traurige Zeit? Das Wort,
das Eis zum Schmelzen bringt und Pferdehufe zum Stolpern,
und unsichtbare Stuten zum Traben treibt;
wie eine Mäusebrut, gänzlich und ewig nackt.
Brasilia, 06.10.2011
* nacktes Ei
KANNIBALE
Ein Jammerschrei aus dem undurchdringlichen Wald
ist das Gespräch zwischen dem Dickicht und den
Sklavenseelen, die sich gegenseitig auffressen.
Von den Rändern des Mahls her, des Kannibalismus, erhebt sich
eine Stimme, Jammerschrei genannt, des undurchdringlichen Waldes.
Aus dem Eichenhain, durch den ich den Weg beschritt,
als ich noch ein Kind war.
Nun brennen die Schober und ein Gewitter zieht auf, dunkler Regen,
den einstigen Weg wird es nicht mehr geben.
Brasilia, 06.10. 2011
***
Bemalte Schlangenlinien, Regendächer,
wie von Riegeln beschwertes Atmen, offene Wunden.
Ende oder Beginn der Welt, Gänsehaut durch Berührung
von Göttern und Bettlern.
Der Schlund des roten Basalts nimmt die Sintflut auf,
Sprühnebel und den Regenbogen.
Einschlüsse von Smaragd und Topas,
Indianergeflüster zwischen den Steilhängen
des Guarani-Territoriums*. Kaimane, Schlangen,
Krallenäffchen, Schmetterlinge, Paradiesvögel.
Ach, Welt, im Traum nicht vorstellbar,
von Seufzern beengt,
von der Armut des Traums gezeichnet.
* Guarani, Indianerstamm aus dem brasilianischen Staat Parana
***
Im Brustkorb eingeschlossen
ruft heiser mein Herz wie eine Eule,
mein Herz hat aufgehört,
ein Singvogel zu sein.
Es kennt und kündigt,
erschöpft und verbraucht,
nur noch den Tod,
die nächtliche Todesstunde.
***
Die Zeit, der große Meister,
kerbt ihre Spuren in die Haut
unserer Gesichter ein.
Zierde des Alterns, schöner denn
die Leere der Jugend,
sie sprechen mit altertümlichem Glockenschlag.
***
Meuten tollwütiger Hunde
haben mein Haus am Ende
der Welt umstellt.
Auf der einen Seite ein steiler Berghang
auf der anderen der Ozean,
und von der dritten her die blutrünstigen Köter.
Sie heulen und bringen dem
Seelenfrieden Wunden bei,
sie zerstören mir
den Trost der Ruhe.
Die Nacht wird kommen und mit ihr
der Mondschein auf die
beschlagenen Fenster fallen.
Sicherheit gibt es nicht, ich brauche sie auch nicht,
denn ein neugeborenes olfsjunge, so weiß,
nistet sich einsam in
meinem Traum ein.108 109
Lebenslauf und Bibliographie
Drago Štambuk wurde 1950 in Selca auf der kroatischen Insel Brač geboren. Medizinstudium an der Universität in Zagreb (Fachgebiet: innere Medizin; Schw-erpunkte: Hepatologie und Gastroenterologie). Von 1983 bis 1994 lebte und arbeitete er in London, wo er sich mit der Forschung von Lebererkrankungen und experimenteller Therapie von AIDS und der Fürsorge um die Erkrankten befasste. Von 1991 bis 1994 war er bevollmächtigter Repräsentant der Republik Kroatien in Großbritannien, von 1995 bis 1998 Botschafter Kroatiens in Indien und Sri Lanka, von 1998 bis 2000 Botschafter in Ägypten und der Mehrzahl der arabischen Länder. An der Harvard Universität war er von 2001 bis 2002 tätig. Von 2005 bis 2013 war er Botschafter in Japan, Südkorea und Brasilien. Im Jahr 1991 gründete er die alljährlich in Selca stattfindende Poesiemanifestation Croa-tia rediviva. Drago Štambuk veröffentlichte mehr als 30 Gedichtsammlungen und erhielt angesehene Literatur-Preise, darunter den Olivenkranz (Selca/Brač), sowie den Jure-Kaštelan-Preis, Josip-Sever-Preis und den Tin-Ujević-Preis. Seine Lyrik wurde ins Englische, Deutsche, Französische, Spanische und Japanische übersetzt. Er lebt in Zagreb.