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Nachdem seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, dessen geronnene Blutflecken stellenweise immer noch auf der geopolitischen Karte unseres Planeten erkennbar sind, nun schon über hundert Jahre verstrichen sind, wäre es vielleicht nicht unangebracht, sich dessen Opfer zu vergegenwärtigen, denn dieser gab es im Jahre 1914 entlang aller Fronten bereits zuhauf. Und vielleicht wäre es nicht einmal nötig, diese Opfer statistisch einzuordnen, denn, sollte eine einzige Kriegswahrheit bestehen, die von den Statistiken weder erfasst, noch dargestellt werden kann, dann ist es gewiss jene, dass jedes Opfer vergeblich war, so viel die politischen Machthaber in ihren Ausflüchten über die Rechtfertigung von Kriegen auch zu faseln im Stande waren. Betört von den großen Themen der sogenannten großen Zeit würde jemand gewiss vom Ersten Weltkrieg sagen wollen, er habe durch seine zerstörerischen Technologien die Kulmination der industriellen Revolution herbeibeschworen, jemand anders, dieses ganze vergebliche Blut sei als logische Konsequenz der Moderne vergossen worden, ohne dabei den Opfern ihr dumpfes Schicksal selbst noch im Grabe zu erleichtern. Gerade bei letzterem sollte in Erinnerung gerufen werden, dass zahlreiche Träger dieses modernen Geistes, meist Humanisten feinfühliger, künstlerischer Natur, von den Mühlen und Zahnrädern gerade dieser stählernen Tötungsmaschinerie zermalmt und zerfetzt worden sind.
Wie viele Schriftsteller, oft Zwangseinberufungen folgend, an den Schlachten des „Großen Krieges“ teilgenommen haben, ist den Werken der Überlebenden zu entnehmen. Bei jenen, aber, die dieses Glück nicht teilten, gestaltet sich die Situation komplizierter, denn von ihren Schicksalen zeugt nur hier und da ein verspäteter Brief, der nach dem Tode des Autors als Abschiedsbrief abgestempelt oder der Literaturwissenschaft zur weiteren Aufbewahrung und Bearbeitung übergeben wurde. Vor allem, sollte es möglich sein, zu behaupten, sein Absender sei nicht so sehr durch einen Regen von scharfen Geschossen, als aus freiem Willen in den Tod gegangen.
Denkt man über jene Schriftsteller nach, die – in Uniform welcher Seite auch immer – nicht einmal einen richtigen Waffenstillstand, geschweige denn eine sterile Siegesparade erleben durften, so wird einem wohl unter den Ersten der bekannte österreichische expressionistische Dichter Georg Trakl einfallen, der sich am 3. November 1914., offensichtlich ohnmächtig, sich gegenüber der Gräuel, die er erlebt hatte, in Gelichgültigkeit zu üben – während der Schlacht beim galizischen Grodek, der er auch sein vielleicht letztes, überaus düster intoniertes Gedicht widmete, musste er als Militärapotheker an die hundert verwundete allein und bar jeglicher Arzneien und sonstigen medizinischen Materials versorgen – im Krakauer Militärkrankenhaus durch ein Überdosis von Kokain, die eine Herzparalyse zur Folge hatte, selbst entleibte. So zumindest die offizielle Feststellung der Todesursache des Dichters.
Ob es sich tatsächlich um Selbstmord handelte – Trakl hatte wenige Tage zuvor einen Nervenzusammenbruch erlitten, weswegen er zwecks „Beobachtung seines geistigen Zustandes“ ins Krankenhaus eingewiesen wurde – ist ein Thema, über das heute noch gelegentlich Diskussionen nicht nur in der literarischen, sondern auch pharmazeutischen Periodik geführt werden, denn wenn der ausgebildete Pharmazeut, dessen wahre Berufung dennoch die Lyrik gewesen ist, etwas genau wusste, so war das gewiss die fachgerechte Dosierung von Kokain. Außerdem lassen sich Spuren des weißen Pulvers, dessen Genuss, nebst anderer Opiate, sowie seines ausgiebigen Wein- und Bordellkonsums, Trakl oft in finanziellen Nöten zurückzulassen pflegten, so zumindest die Fachwelt, auch in seinen suggestiven expressionistisch-symbolistischen Versen aufweisen, etwa in jenem über den „tiefen Schlummer in dunklen Giften“, oder aber dem Gedicht „Der Schlaf“: „Verflucht ihr dunklen Gifte, / Weißer Schlaf! / Dieser höchst seltsame Garten / Dämmernder Bäume / Erfüllt von Schlangen, Nachtfaltern, / Spinnen, Fledermäusen.“
Den kroatischen Dichter, Dramatiker und Erzähler Fran Galović aus Peteranec bei Koprivnica verbindet mit Georg Trakl offensichtlich viel mehr als nur die Tatsache, dass beide 1887 zur Welt kamen und 1914 ihr Leben jäh beendeten, Trakl im Moder des Krakauer Krankenhauses, Galović acht Tage zuvor, am 26. Oktober 1914, unweit der Ortschaft Radenkovići in der serbischen Mačva, sowie dass beide zum gleichen österreich-ungarischen Militär eingezogen worden waren. Es ist vielmehr eine spezifische lyrische Sensibilität, im Falle der beiden Autoren zugleich verwandt und verschieden, die sich bei Galović, davon zeugen zahlreiche Abhandlungen über sein literarisches Werk, vor allem in der steten Gegenwart des Todesmotivs niederschlägt: „ha, Abgründe überall um mich herum… überall Finsternis… furchtbare… schreckliche… entsetzliche… / Ich gehe schon… stürze in den Abgrund hinab… im Tode wenigstens kann ich alles erfahren.“
Dennoch, während bei Trakl gemutmaßt wurde, die Ursache seines Todes sei vielleicht doch nicht „Suizid durch Kokainintoxikation“ gewesen, ließ der Tod Fran Galovićs, der tatsächlich „von einem Geschoss ins Herz“ getroffen wurde, lange Zeit Zweifel aufkommen, er habe sich seinem Schicksal vielleicht doch absichtlich in die Arme geworfen. Dem Mysterium trug ich hohem Maße sein letzter Brief bei, den er am 25. Oktober 1914 an seinen Freund und literarischen Kollegen Milan Ogrizović geschrieben hatte: „Die Sonne scheint, es ist Sonntag, ein wundervoller, warmer Morgen. Man möchte geradezu sterben an einem derart sonnigen Tage.“ Zwar gab es in Galovićs Feldkorrespondenz auch weitere solche Momente, zum Beispiel, als er am 13. Oktober von der Front seinem Freund und postumen Herausgeber seiner „Gesammelten Werke“ Julije Benešić mitteilte: „Es freut mich, dass du an mich denkst, während Stevo Musulin schweigt. Ich verstehe aber diese schweigen und vergebe ihm, denn vor dem Tode wird alles vergeben.“ Beziehungsweise, als er, kurz bevor er an die Front geschickt wurde, an den Theaterregisseur Josip Bach schrieb: „Ich gehe in ein paar Tagen, dann könnt ihr auf ein Drama jenseits des Grabes hoffen, das sich hinter herabgelassenem Vorhang abspielen wird.“
Trakl wiederum schrieb in seinem letzten Brief an seinen Verleger und Mäzen Ludwig von Ficker, nebst beigelegter Gedichte „Klage“ („Schlaf und Tod, die düstern Adler / Umrauschen nachtlang diese Haupt…“ und „Grodek“ („Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz, / Die ungebornen Enkel.“): „Seit Ihrem Besuch im Spital ist mir doppelt traurig zu Mute. Ich fühle mich fast schon jenseits der Welt.“
Dennoch ist es nicht leicht, in Galovićs Fall zu sagen, er habe, in die Wirren des Weltkriegs geworfen, tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, Hand an sich zu legen, zumal er in seiner Korrespondenz an mehreren Stellen auch große literarische Vorhaben ankündigte, die er verwirklichen wolle, „sollte er überleben“. „Ich kämpfe, lebe und bin noch nicht verwundet“, schrieb er aus dem Schützengraben an Julije Benešić und fügte noch hinzu: „Ansonsten haben sich meine Lebens- und Weltanschauung grundlegend geändert. Kehre ich zurück, bekommst du von mir einen Roman, der ‚Tote Heimat‘ heißen wird. Sollte ich fallen, erwähne diese Idee in deiner Ansprache über meinem Kenotaph.“ Über den beabsichtigten Roman hatte er auch Ogrizović in Kenntnis gesetzt: „Sollte ich zurückkehren, habe ich die Idee eines Romans, der ‚Tote Heimat‘ heißen wird (er soll zeigen, dass dieser Krieg, wie auch andere Dinge im Leben, etwas ganz Gewöhnliches ist), sowie ein Drama, in der ein toter Bräutigam aus der Schlacht heimkehrt (‚Lenore‘), ein altes Motiv – natürlich, transponiert.“
Vielleicht handelt es sich dabei um puren Zufall, es ist aber schwer, in diesem Zusammenhang nicht zu bemerken, dass sich im Sammelband „Kroatische junge Lyrik“ aus dem Jahr 1914, in den auch neun Gedichte Galovićs aufgenommen wurden, ein Gedicht der kroatischen Dichters Tin Ujević mit dem Titel ‚Tote Heimat‘ befindet („… o der Väter wüster Friedhof / Gib Schlaf noch uns letzten Kroaten!“). Das Motiv des Bräutigams, der, obwohl gefallen, tot aus dem Krieg zurückkehrt und seine Verlobte mit sich ins Grab führt, entstammt wiederum der romantischen Ballade „Lenore“ (1773) des deutschen Dichters Gottfried August Bürger, deren Vers „Denn die Toten reiten schnell“ kurioserweise vom irischen Autor Bram Stoker als Leitmotiv seines Bestsellers „Dracula“ verwendet wurde.
Wie auch immer es sei, der Erste Weltkrieg, so wichtig er für die Entwicklung der Weltliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts auch gewesen sein mochte, löschte zahlreiche künstlerische Existenzen aus, an die man sich, auch ohne kalendarischen Anlass, immer wieder zurückerinnern sollte. Es waren derer natürlich noch viel mehr, bekannte und weniger bekannte, ja auch völlig anonyme Künstler, das traurige Primat gehört jedoch auch weiterhin Galović und Trakl. Und wo schon von Kuriositäten die Rede ist, wäre es gewiss nicht unangemessen zu bemerken, dass die kroatische Wikipedia-Version Galović (was ohne weiteres auch für seinen Altersgenossen Trakl zutrifft) in den populärkulturellen „Klub 27“ einreiht, in dem sich eine Reihe berühmter Personen befindet, die mit 27 Jahren aus dem Leben geschieden sind, etwa Brian Jones, Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain und andere. Dies wäre zugleich auch ein guter Beitrag zur methodischen Frage: Was bedeutet uns Galović heute?
(Vom Autor selbst übersetzt)